Recovery tut gut...


Recovery

Recovery ist nicht einheitlich verbindlich definiert. Als medizinisches Recovery, als Bewertungshilfe oder Messinstrument für Behandlung, als Therapieoption oder als Lebenslehre hat Recovery für unterschiedliche Personengruppe unterschiedliche Bedeutungen. Für mich wurde Recovery über die Jahre hinweg zu einer Hilfe, mich mit meinen psychischen Einschränkungen auseinanderzusetzen und dadurch eine optimistischere und hoffnungsvollere Einstellung zu gewinnen und zu erhalten. Darüber hinaus wurde Recovery für mich eine Hilfe, wie ich mich besser unterstützend mit anderen psychisch belasteten Menschen austauschen kann. Im folgenden Text, will ich mein in etlichen Jahren gewachsenes Verständnis von Recovery und warum Recovery gut für mich ist dem Leser nahe bringen.

Was ich unter Recovery verstehe

Recovery ist eine Haltung und gleichzeitig ein Prozess, eine Art zu leben und zu begleiten. Der englische Begriff Recovery kann ins Deutsche übersetzt werden mit „Genesung“, „Wiedererstarken“, „Erholung“ oder „Besserung“. In der Psychiatrie steht der Begriff „Recovery“ auch für eine Bewegung von Psychiatrieerfahrenen, die sich seit Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts für eine andere Wahrnehmung psychischer Erkrankung einsetzten. Viele unterschiedliche Gruppen und Institutionen arbeiten heute mit dem Recoveryansatz.*

 

Recovery geht davon aus, dass jeder Mensch, unabhängig von der Schwere seiner psychischen Belastung, die Chance auf ein gutes und erfülltes Leben hat. Jeder Mensch hat das Potenzial zur Genesung. Erstes Ziel ist dabei Wohlbefinden und nicht die Freiheit von Symptomen. Die größten Wirkfaktoren sind hier die Aufrechterhaltung von Hoffnung und die Fähigkeit dem Geschehen einen Sinn zu geben. Recovery ist ein allumfassender Entwicklungsprozess, der durchaus von Rückschritten und Stagnation begleitet werden kann. Der sogenannte Recoveryweg führt aber auf die Dauer zu einer Verbesserung der persönlichen Situation und Befindlichkeit. Recovery orientiert sich an den Stärken und den Fähigkeiten der Menschen ohne deren Schwächen aus dem Blick zu verlieren. Erfahrungen und das daraus resultierende Erfahrungswissen, sind von ausschlaggebender Bedeutung und werden als persönlicher Schatz angesehen, der in vielerlei Weise positiv genutzt werden kann. Recovery hat einen Fokus auf den Bedürfnissen, Wünschen und Träumen der Menschen und nimmt diese ernst. Recovery nutzt gleichermaßen Menschen, die Erfahrungen mit seelischen Krisen haben und Psychiatrie-Fachpersonen, um das Recovery psychisch belasteter Menschen zu fördern. Durch eine spirituelle Dimension kann Recovery erweitert werden.

Warum mir Recovery gut tut

Wenn ich über Recovery nachdenke, beschäftige ich mich mit einer positiven Sichtweise. Ich denke positive Gedanken. Da Recovery mich schon über 10 Jahre begleitet, hat sich allein schon das Wort Recovery in ein positives Symbol und Signal gewandelt. Es steht für mich für den Glauben, dass alles gut wird, dass ich auf dem richtigen Weg bin, dass Hoffnung besteht, das alles seinen Sinn hat. Vor allem ist für mich Recovery eine Haltung, eine Art wie ich mein Leben lebe, wie ich mit dem umgehe, was in meinem Leben geschieht. Es heißt nicht, dass ich nicht verzweifelt sein darf. Es heißt auch nicht, dass ich immer das Richtige tun muss. Aber Recovery ist ein Sinnbild für diese innere Kraft, die einen nicht aufgeben lässt. Die eine tief im Innersten ruhende Überzeugung nährt, dass Aufgeben keine Lösung ist. Die sogar verhindert, dass man sich im Extremfall das Leben nimmt, nur um das Leiden nicht mehr aushalten zu müssen. Ich habe wohl Recovery wohl schon zu einer Art Religion für mich gemacht. Ich denke Gott, an den ich auch glaube, wird nichts dagegen haben, so wie ich ihn kenne. Recovery ist für mich eine gute Sache und Gott freut sich, wenn man gute Wege findet.

 

An Recovery gefällt mir auch, dass es von Betroffenen mit psychischen Problemen selbst entwickelt wurde. Aus eigener Sicht, haben sie sich überlegt, "Was hat mir geholfen auf meinem Weg zur Besserung?". Recovery ist nicht Neues. Es ist eine Sammlung der von einer Gruppe von psychiatrieerfahrenen Menschen bevorzugten Möglichkeiten, wie man eine psychische Einschränkung überwinden kann. Die Betroffenen haben dabei selbst ausgesucht, was am besten hilft. Und dann haben sie sich zusammengeschlossen und artikuliert, wie sie behandelt und begleitet werden wollen. Recovery ist auch eine Forderung gegenüber dem Hilfesystem und hat eine gesundheitspolitische Komponente. Nicht zuletzt spricht aus ihr auch eine Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand der Psychiatrie.

 

Für mich ist bei Recovery auch hilfreich, dass es nicht das wichtigste Ziel ist, die Symptome der psychischen Störung zu behandeln. Es ist nicht das Ziel, wieder so zu werden, wie ich vor meiner ersten psychischen Krise war. Letztendlich geht das ja gar nicht, weil alles Leben Entwicklung bedeutet. Es kommt darauf an, dass ich mich wohl fühle mit dem Leben, dass ich im Moment führe, selbst wenn mich meine psychische Befindlichkeit noch behindert.

Recovery in der Kritik

Die Kritik, dass Recovery nur etwas für Menschen mit leichteren psychischen Störungen sei und die schwer betroffenen ganz andere Probleme hätten, zeigt für mich eher, dass diese Kritiker Recovery nicht verstanden haben. Ich bin der Meinung, dass die Recoveryhaltung jedem leidenden Menschen helfen und auch jedem nahe gebracht werden kann, auch wenn die Vorgehensweisen dafür unterschiedlich sind. Gerade bei Menschen, denen es sehr schlecht geht, ist es von großer Wichtigkeit, die Hoffnung auf Besserung nicht aufzugeben. Die Begriffe "austherapiert" und unheilbar sind für Recovery nicht relevant. Es ist von enormer Bedeutung, dass Angehörige und professionelle Helfer stellvertretend Hoffnung nicht aufgeben, wenn es der Betroffene für sich bereits getan hat (holder of hope). Sicherlich ist das bei sehr psychisch belasteten Menschen am schwersten und die Gefahr ist verständlicherweise dort am größten, sich mit dem aktuellen Zustand abzufinden. Hier benötigen dann nicht nur die Betroffenen besondere Unterstützung, sondern auch die Helfer, die vielleicht jeden Tag die Leiden, die Lähmung und die Resignation des Betroffenen miterleben und mit aushalten müssen.

 

Ein weiterer Kritikpunkt gegenüber Recovery ist, dass es falsche oder überhöhte Hoffnungen bei den Betroffenen weckt. Sicher ist es angebracht, diesem Punkt besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Aber es geht ja nicht darum, dass ich wieder "gesund" werde, sondern um die Hoffnung, dass ich mich wieder wohl fühle mit dem Leben, wie ich es führe. Diese Form der Hoffnung dürfen meines Erachtens alle belasteten Menschen haben. 

 

Ziele, Wünsche und Träume sind ein sehr guter Motor, uns voran zu bringen und sind für unser Recovery wesentlich. Es ist immer ein Fehler Menschen diese ausreden zu wollen. Es ist ratsam, Menschen auf dem Weg dorthin zu unterstützen und wenn die Ziele noch so unerreichbar erscheinen. Das Ziel in kleine Teilziele aufzuteilen und mit dem Weg beginnen. Auch das Scheitern ist eine wichtige Erfahrung - vielleicht sogar bedeutsamer als der Erfolg. Aufgegebene Lebensträume verfolgen einen häufig bis zum Lebensende.

 

Bei Recovery hat die Fähigkeit dem eigenen Leben und der psychischen Problematik einen Sinn zu geben eine große Bedeutung. Die Erfahrung zeigt, dass sich Menschen leichter tun, wenn sie das Gefühl haben, sinnvoll zu leben und dass die Dinge einen Sinn haben. Es ist allerdings richtig, dass es nicht allen Menschen gelingt, diesen Sinn für sich zu finden oder sie gar nicht den entsprechenden Anspruch haben. Dann sollte vermieden werden, diesen Menschen zwanghaft zu vermitteln, dass sie unbedingt einen Sinn finden müssen, um gut leben zu können. Sinnhaftigkeit erleichtert es zufrieden und dankbar zu sein, aber es ist keine notwendige Bedingung dafür. Letztendlich geht Recovery sowieso von den Bedürfnissen der Person aus und die können sehr unterschiedlich sein.

Vorbilder

Menschen, die den Recoveryansatz erfolgreich leben, werden häufig als Vorbilder betrachtet. Wichtig ist es dabei zu bedenken, dass jede Person ihren eigenen Recoveryweg geht. Menschen, die schon weit auf einem Recoveryweg fortgeschritten sind, sind Beispiele dafür, dass Recovery hilft, aber zeigen nur sehr bedingt einen Weg der nachgegangen werden soll oder kann. Die Lösungen für Lebensprobleme liegen in der Person verborgen und wollen letztendlich von dieser selbst gefunden und umgesetzt werden. Die Außenstehenden sind dabei im besten Falle nur hilfreiche Impulsgeber - mehr schadet nur.

 

In diesem Sinne sind meine obigen Ausführungen zu verstehen. Es ist nicht immer ein Mangel, wenn ein Begriff nicht klar definiert ist. Es ist oft sehr motivierend ein vages Konzept mit eigenen Gedanken zu füllen und anzupassen. Es steht ihnen frei, sich mit Recovery zu beschäftigen und dann ihren eigenen Text "Warum Recovery mir gut tut" oder "... nicht gut tut" zu verfassen. Ich bin auf das Ergebnis gespannt.

 

Rainer Höflacher am 7.3.2021

 

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*aus: "Recovery - ein ressourcenorientierter Ansatz", ZfP Emmendingen