Mirjam Kalkert

Recoverygeschichte von Mirjam Kalkert (verfasst am 20.11.2024)

Geboren und aufgewachsen bin ich 1975 in einem verschlafenen Nest im Westerwald, aber die eigentliche Reise meiner Erkrankung beginnt erst sehr viel später mit einer Retraumatisierung 1999. Damals wusste ich natürlich nicht, dass es eine Retraumatisierung war. Dazu musste ich ja erst einmal mein Trauma wieder-erinnern. Genau das ist damals auf versehentliche Art und Weise angestoßen worden und hat mich in eine Welt aus Schlaflosigkeit, Alpträumen, Selbstzweifeln und Unglaube entführt. Besonders die monatelang andauernden, massiven Schlafstörungen haben mich Ende 2001 schließlich zum ersten Aufenthalt in einem kleinen, psychiatrischen Krankenhaus gebracht. Eigentlich wollte ich nur schlafen, diagnostiziert wurde dann jedoch eine Posttraumatische Belastungsstörung, eine Anpassungsstörung und schwere Depressionen. Nur wenige Monate darauf erfolgte eine Reha-Maßnahme, woraufhin ich mich sowohl jedweden Medikamenten als auch Therapien für die nächsten Jahre vollständig verweigert habe.

Zwischen meinem Abitur 1995 und meinem ersten Klinikaufenthalt 2001 war mein Leben bereits recht chaotisch. Ich wusste nie so recht, wohin mein Weg mich eigentlich führt, habe immer jemanden gesucht, der mir zeigt: „Da geht’s lang“. Diese Tendenz wurde nach besagter, erfolgloser Reha nicht besser. Ich habe mein Trauma ignoriert, wollte Teil der „normalen“ Gesellschaft sein und einen funktionierenden Alltag leben. Bis 2011 habe ich mich irgendwie durchs Leben gemogelt, bin von einem Job in den nächsten gestolpert, 10mal umgezogen, habe zwei Studiengänge sowie verschiedene Ausbildungen begonnen und nichts abgeschlossen und mich schließlich dazu durchgerungen, eine Umschulung zur Mediengestalterin digital und print durchzuführen. Diese habe ich 2013 erfolgreich beendet, aber nie in dem Beruf gearbeitet, da ich wieder einmal in einen Job gestolpert bin, der im Mai 2015 schließlich in Überforderung und einer massiven Panikattacke in einer Akuttagesklinik endete. Während dieses Aufenthaltes habe ich mir endgültig eingestehen müssen, dass es so nicht weitergehen kann und ich das auch nicht mehr will, aber dass ich dafür Hilfe brauche.

Umzug 11 führte mich schließlich zurück in die Heimat. 2016 habe ich nach einem weiteren stationären sowie teilstationären Aufenthalt Anträge auf gesetzliche Betreuung und mit deren Hilfe schließlich die Erwerbsminderungsrente sowie einen Schwerbehindertenausweis beantragt. Die psychiatrische Begleitung durch die Institutsambulanz in Wohnortnähe sowie therapeutische Arbeit und das Einstellen auf neue Medikamente waren zunächst zähneknirschend akzeptiert, dann jedoch eine willkommene Hilfe.

Der Besuch einer Tagesstätte führte mich in kleinen Schritten zurück in einen geregelten Alltag und eine neue Realität, die ich mir nach und nach neu aufgebaut habe. Von dort ging es nach über einem Jahr in eine Werkstätte für behinderte Menschen. In der Zwischenzeit war meine befristete EU-Rente in eine unbefristete umgewandelt worden und ich habe nun einen Grad der Behinderung von 50. Der Versuch einer erneuten Reha-Maßnahme endete im Abbruch nach nur 9 Tagen.

Von meinem Psychiater erhielt ich die Empfehlung, die Weiterbildung zur EX-IN Genesungsbegleiterin zu machen. Auf den Beginn des Kurses musste ich aufgrund von Corona zwei Jahre warten. Allerdings gehöre ich zu denjenigen, denen die allgemeine Zurückhaltung und die Vorsicht der Mitmenschen gutgetan haben. Ich konnte zum ersten Mal seit vielen Jahren nahezu angstfrei Einkaufen gehen. Es war nicht überfüllt, nicht laut, es hat mich endlich nicht überfordert, mich durch den Supermarkt zu bewegen. In der Nachbetrachtung hat mir die ruhige Zeit viel gebracht, um mich noch einmal mehr meiner Genesung und Therapie zu widmen.

Im Mai 2022 konnte ich die Weiterbildung endlich in Bonn starten. Bereits damals hatte ich die Idee, nach dem Abschluss endgültig der alten Heimat den Rücken zu kehren und einen wirklichen Neustart zu planen. Nach einem erfolgreichen ersten Praktikum, das ich in Basel wahrnehmen konnte und währenddessen ich mich in die Region rund um Freiburg verliebt habe, habe ich Ende 2022 noch während der Weiterbildung den großen Schritt gewagt.

Es folgte Umzug 12 in den Breisgau, der Abschluss meiner Weiterbildung im Mai 2023 und mein erster Schritt in die Arbeitswelt seit 8 Jahren. Seit Juli 2023 arbeite ich auf einer geschützten Station des ZfP Emmendingen. Was zunächst als Praktikumsplatz, dann als Minijob begann, ist mittlerweile eine 30% Stelle. Ich bin rundum zufrieden, sowohl mit der WG in der ich mit meinen zwei Katzen wohne, als auch mit dem neuen Leben, dass ich hier nach und nach gestalte.

Wenn mir jemand vor oder auch noch während der Weiterbildung zur Genesungsbegleiterin gesagt hätte, dass ich jemals an einer Podiumsdiskussion teilnehmen und sogar Vorträge halten würde, ich hätte denjenigen vermutlich ausgelacht. Zwei abgebrochene Studiengänge, drei Ausbildungsabbrüche, mindestens 10 Jobs, eine Selbständigkeit, eine Privatinsolvenz, Zwangsmaßnahmen vom Jobcenter, Tagesstätte, WfbM, insgesamt vier stationäre und fünf teilstationäre Psychiatrieaufenthalte, 12 Umzüge, gesetzliche Betreuung, langjährige Therapie und vieles, was ich in dieser Aufzählung vergessen habe, habe ich endlich damit begonnen, bei mir selbst anzukommen.

Jeder Tag ist eine Bereicherung, an dem ich mehr darüber kennenlerne, wer ich eigentlich bin. Ich bin zufrieden mit meinem Leben und gespannt, wohin mich der neue Weg noch führen mag.

Ich möchte meine Recoverygeschichte mit dem Refrain aus dem Song „Gib niemals auf“ von der Punkrockband Drei Meter Feldweg an dieser Stelle beenden:

Gib niemals auf, denk fest daran
Dass jeder Tag etwas verändern kann
Gib niemals auf, bald siehst du Licht
Die Sonne scheint in dein Gesicht

Die schwere Zeit ist bald zu Ende
Hab kurz Geduld, bald kommt die Wende
Glaub, was das Leben dir verspricht
Auf Dunkelheit folgt Licht