Recoverygeschichte von Christian Marquardt

Psychische Erkrankungen erzeugen oftmals viel Leid, Verzweiflung, Bitterkeit und Trauer. Diesen Gefühlen aufrichtig zu begegnen ist schwer. Hieraus folgt zurecht ein fundamentaler Haderungsprozess, der lange andauern kann. Die persönliche Entwicklung während des Haderns ist zum einen sehr berechtigt und wird andererseits stets aus der subjektiven Sicht geführt. Es können von Außen Anreize und Impulse gesetzt werden, um diesen Haderungsprozess auf lange Sicht in eine akzeptierende Haltung zu begleiten. Jedoch obliegt der Weg hin zur Akzeptanz stets dem Individuum selbst. Gerade diese (lange) Entwicklung weg von den negativen Gefühlen hin zu einem positiven, erfüllten Leben ist ein zentraler Bestandteil von Recovery. Die Schlagworte wie beispielsweise  Hoffnung, Individualität und Sinninterpretation sind einfach aufzuzählen, sie ziehen jedoch (langfristige) Entwicklungsprozesse nach sich, die vom sozialen Umfeld zu unterstützen sind. Veränderung (vor allem in psychischer bzw. psychologischer Hinsicht) kostet (viel) Kraft und Zeit. Nicht jeder kann den Mut aufbringen sich seiner eigenen Erkrankung zu stellen, vor allem nicht alleine. Genau hier sind die Unterstützungssysteme gefordert, eine individuell zugeschnittene Perspektive zu entwickeln. Stellvertretende Hoffnung ist nur ein Beispiel davon.

Unter dem komplexen System des Zusammenspiels von verschiedenen Persönlichkeiten und zusätzlichen Belastungen erscheint die Recovery-Antwort manchmal zu einfach.

 

Entgegen all diesen negativen Aspekten, die eine psychische Belastung mit sich bringt, kann sich dennoch eine Perspektive entwickeln. Vor allem Hoffnungsträger und Hoffnungsstabilisatoren können eine positive Entwicklung anstoßen und unterstützen. Auf lange Sicht ist auch (persönliche) Kreativität und Flexibilität gefragt. Neue Wege zu entwickeln und zu beschreitet kann anstrengend sein. Dennoch sind es manchmal die Umwege wert gegangen zu werden, da sie eine Menge Erfahrungspotential enthalten. Die Herausforderung zur Anpassung durch Veränderung mag anfangs eine Hürde darstellen, an der man aber auch wachsen kann. Gelassenheit, Geduld und Frustrationstoleranz werden oftmals strapaziert. Auch Veränderung als Chance wahrzunehmen bildet einen Lernprozess ab. Den konstruktiven Anteil von Recovery stellt die Ressourcenorientierung dar. Auch der Abbau von (Selbst-)Stigmatisierung, um Menschen zu sehen, kann Energie kosten. Akzeptanz wird in diesem Sinne nicht nur vom Individuum selbst, sondern auch von dessen sozialem Umfeld (zurecht) gefordert.

 

Recovery sollte auch in seiner Symbiose mit Empowerment gelebt werden. Ein psychisches Handicap bedeutet keine Willenseinschränkung. In diesem Sinne basieren sowohl Recovery als auch Empowerment immer auf einer (persönlichen) Entscheidung. Die Äußerung einer Absicht ist ein klares Startsignal beider Entwicklungen. Auch werden beide Prozesse stets von den Fragen begleitet “wer bin ich?” bzw. “was will ich?”. Beide Prozesse beantworten diese Fragen in einem positiven und konstruktiven Sinn. Die Beantwortung dieser Fragen gibt uns innerlich Struktur, Orientierung und Halt. Recovery und Empowerment können sich auch auf einer neuen Identifikation des Selbstbewusstseins und Selbstwertes begründen. So lassen sich manchmal Rückschläge durch die Erkrankung (im Nachhinein) als Herausforderung für die Persönlichkeitsentwicklung interpretieren. Psychische Einschränkungen machen also keinesfalls Handlungs- oder Hoffnungsunfähig, sie fordern viel mehr unsere Hoffnungs- und Handlungsfähigkeit heraus.
 

Aus den möglichen Definitionen von Recovery möchte ich folgende Ideen hervorheben:

  • der Weg, schwere Krisen zu bewältigen
  • Ausgang des Menschen aus der Patientenrolle ( die hier nicht selbstverschuldet ist; vgl. Aufklärung und Kant)
  • Hoffnung werden, Würde leben, Leben führen (in Anlehnung an “Hoffnung – Macht – Sinn” Amering, Schmolke) 

Meine persönliche Recovery-Geschichte beginnt im Prinzip mit meiner Dickköpfigkeit trotz meiner schizoaffektiven Störung 2009 und den damit verbundenen Depressionen mein Studium beenden zu wollen. Zum Glück hatte ich sowohl etliche Prüfungen schon abgelegt, als auch die finanzielle und psychische Unterstützung meiner Eltern hierfür. Dafür bin ich sehr dankbar. 2015 schloss ich meinen Bachelor in Informatik erfolgreich ab. Es sollte aber noch ein paar Jahre dauern, bis mein Recoveryweg 2018 mit dem Beginn meiner ExIn-Ausbildung an Fahrt gewann. Hier begann ich meine ersten Texte zu schreiben, parallel dazu fand eine gute Psychotherapie statt und auch die Soziotherapie bietet mir bis heute eine hilfreiche Unterstützung.  Damit ist mein Recoveryweg multifaktoriell.

Natürlich bin ich auch meiner Familie und meinen Freunden dankbar, die mich immer positiv unterstützen. Eine große Hilfe waren auch meine (innere) Zufriedenheit, langfristig gesehen die Geduld und seit kurzem auch eine gewisse Gelassenheit. Zum Glück hatte ich mir (gezwungenermaßen durch die Erkrankung) auch etwas Optimismus antrainiert, der mich durch einige depressive Phasen trug.

Ich bin aus diesen Phasen letztlich gestärkt hervorgegangen, da ich selbst in den dunkelsten Stunden irgendwie in mir den Funken eines Glaubens fand, dass es wieder besser werden könne. Es war bei weitem keine Gewissheit, aber diese innere Überzeugung gab mir eine Art Kraft nicht aufzugeben und weiter gegen die Depression zu kämpfen. Vor allem durch die Psychotherapie habe ich die Überzeugung gewonnen, dass eine gewisse psychische Flexibilität gelernt werden kann.

Die innere Unsicherheit einer seelischen Erschütterung macht es selbstverständlich, dass (psychisch erkrankte) Menschen psychologische Unterstützung benötigen, um ihr Selbstwertgefühl (wieder) aufzubauen, das durch die Krise erschüttert wurde. Die Unsicherheiten des Betroffenen erstrecken sich auf Denken, Fühlen sowie Handeln und fallen damit direkt in das Gebiet der Psychologie.

Ich will aber der Vollständigkeit halber auch die negativen Entwicklungen beleuchten. So musste ich viele persönliche Träume aufgeben, die sowohl die Arbeit, als auch mein soziales Leben betrafen. Meine Erkrankung ist in diesem Zusammenhang für mich ein persönliches unnötiges Handicap. Ich kann und will ihr keinen Sinn geben auch wenn ich weiß, dass dies für viele andere Menschen hilfreich sein mag, ihre Erkrankung in ihre Biographie einordnen zu können. Für mich selbst macht eine Erkrankung keinen Sinn, ich würde schließlich auch nicht bei Bluthochdruck oder “Diabetes im Gehirn” mich auf eine Sinnsuche begeben. Diese klare Abgrenzung zur Erkrankung ist für mich so am hilf reichsten und schafft mir die nötige Distanz, um mich damit auseinander zu setzen.

Ich bitte auch um eine Anerkennung von Bitterkeit und Trauer, da nur sie die Authentizität der Betroffenen im Blick behält. Vielleicht kann man auch Aggressionen als (unbewusste oder unterbewusste) Reaktion auf Verzweiflung und Leid verstehen.

Ich glaube ich habe im professionellen Umfeld einen Satz aufgeschnappt: “Akzeptieren Sie Ihre Erkrankung.” Zuerst war ich hoch empört und empfand ihn als Beleidigung, da sich dieser Satz so einfach sagen lässt. Ich finde ihn bis heute nicht gut, da er zum einen eine Forderung an einen Hilfsbedürftigen ist und andererseits selbst bei gutem Willen eine Mammutaufgabe für den Betroffenen darstellt. Akzeptanz ist für mich heute ein Weg und auch dieser gehört professionell begleitet und nicht als Aufforderung in den Raum gestellt. Ich vergleiche Akzeptanz gerne mit einem (unendlich) dicken Brett. Man bohrt, hadert und überhitzt fast, aber irgendwann ist man durch dieses Brett durch.

Des Weiteren will ich in meinem Fall nicht von Genesung oder Gesundung sprechen; dies sind für mich eher medizinische Begriffe und damit kenne ich mich nicht aus. Ich kann aber sagen, dass es mir heute definitiv besser geht, als ich es mir gedacht hätte. Vielleicht wäre ich bereit den Begriff der Weiterentwicklung zu verwenden. Hier kann ich auch die Interpretation der Hoffnung auf Entwicklung wieder verstehen. Es kann lange dauern, bis man Veränderung als Chance begreift, seine Haltung überdenkt und sich (innerlich) entfaltet. Zudem ist die Bereitschaft zur Veränderung der Orientierung (dies kann Träume, Ziele und Wünsche betreffen) auch ein wichtiger Schritt meines Recoverywegs gewesen.

Auch Hilfe annehmen zu können, hat meines Erachtens einen wesentlichen Bestandteil von Recovery und Empowerment. Ich habe das (psychiatrische) Versorgungssystem dabei stets als stärkenden, sicheren Hafen im Rücken empfunden. Damit konnte ich auch die Angst ablegen wieder zu erkranken, die mich sonst viel Energie kosten würde. Prinzipiell finde ich Hoffnung als Perspektive gut, auch wenn es keine Garantien gibt. Generell halte ich mich dabei an eine H2O-Regel: Hilfsbereitschaft, Hoffnung und Optimismus.

Ich finde es aber auch wichtig im Recoveryprozess Vorbilder zu haben. Auch sie können Halt und Orientierung geben. Recorvery bleibt ein individueller Weg. Mir persönlich haben die Diagnose und die Behandlung davon sehr geholfen. Ich sehe Recovery als Chance mit (professioneller) Unterstützung ein gutes Leben zu führen. Dabei trage ich ein Handicap, aber es bedeutet für mich keine Unfähigkeit vielmehr ist es ein bewusster Umgang mit (persönlichen) Grenzen. Auch hier kommt der Akzeptanz von Grenzen eine große Rolle zu. Ich muss ja nicht “mit dem Kopf durch die Wand”, wenn ich mit etwas mehr Aufwand auch außen herum laufen kann. Dabei bleibt meine innerste Überzeugung stets die Aussicht oder Hoffnung auf Veränderung, vor allem bezüglich Depressionen hat mir diese Flexibilität sehr geholfen. Sicher ist eine psychiatrische Diagnose ein schwerer Schicksalsschlag.

Zum Glück sind meine Familie und meine Freunde bei mir geblieben und ich bin dadurch nicht sozial isoliert. Das rechne ich meinem sozialen Umfeld hoch an, denn auch der Recoveryweg kann beidseitig getragen werden. Auch musste ich lernen über meine Gefühle und inneren Prozesse zu kommunizieren. Dies habe ich auch in einer Selbsthilfegruppe gelernt:

Gefühle müssen nicht nur positiv sein, wenn sie authentisch sind. Zudem macht mir meine persönliche Überzeugung Mut, dass unser Gehirn eine neurologische Flexibilität besitzt. Die Zurückerlangung meiner logischen Denkfähigkeit durch die Medikamente, die ich nehme, sehe ich als weitere Chance für meinen eigenen freien Willen an. Nichts desto trotz ist es immer eine Balance zwischen persönlicher Belastbarkeit und deren Grenzen. Letztlich unterstützen mich die Hilfskonzepte hier und lassen mich stärker aus persönlichen Krisen hervorgehen. Dies betrachte ich immer in dem Bewusstsein: “Ich habe es schon einmal geschafft, also werde ich es auch wieder schaffen.” Hieraus resultiert auch ein Stück Gelassenheit.

Wichtig im Recoveryprozess ist auch die Autonomie. Letztlich entscheide ich wie ich (konstruktiv) lebe. Gerade bei Depressionen ist es wichtig sich dies stets vor Augen zu führen: Ich kontrolliere mein Leben, nicht die Erkrankung. In einem extremen Beispiel bei mir ging es soweit, dass ich selbst unter Suizidgedanken noch denken konnte “aber ich will leben!”, was persönlich eher Empowerment gegenüber der Depression war.

Ich bin nicht durch meine Erkrankung definiert oder identifiziert, da ich mehr bin. Vorurteile, Stigma und Diagnosen fallen dann von einem ab (wie Papierstücke von einem Kunstwerk) und man sieht sich wieder wie man sich (eigentlich) sehen sollte: von Mensch zu Mensch.

 Am Ende bleibt eine Dankbarkeit übrig, für alle Unterstützung die ich erfahren habe. Wissend, dass auch mein Weg des Lernens und der Entwicklung weiter geht. Vielleicht bin ich ja einfach nur Wanderer durch einen Raum der persönlichen Entfaltung und Recovery ist auf diesem Weg gerade einmal der erste Schritt.

 

22.02.2021

Christian Marquardt